Opa kriegt nichts mehr zu trinken! • Neue Weihnachtsgeschichten mit der buckligen Verwandtschaft by Dietmar Bittrich (Hg.)

Opa kriegt nichts mehr zu trinken! • Neue Weihnachtsgeschichten mit der buckligen Verwandtschaft by Dietmar Bittrich (Hg.)

Autor:Dietmar Bittrich (Hg.) [Bittrich (Hg.), Dietmar]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644534810
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2014-09-30T00:00:00+00:00


Meine Mutter schnappt sich die Enkel, die sich um sie schlingen, und überlässt es meinem Vater, den erwachsenen Erstkontakt herzustellen. Meine Schwägerin zieht mich in die Küche: «Und?» – «Scheint ein Angeber zu sein.» – «Wieso?» – «Merkt man doch sofort.»

Mein Vater kommt und holt uns zurück, weil jetzt Menschen auf Zimmer verteilt und Kinder umgezogen und Geschenke am Christkind vorbei ins Weihnachtszimmer geschmuggelt werden müssen. Und weil mein Vater findet, man müsse mindestens eine halbe Stunde vor Beginn des Kindergottesdiensts in der Kirche sein, da man sonst noch nicht mal mehr einen Stehplatz kriegt.

Dass das Christkind da war und die Bescherung beginnen kann, wird in anderen Familien mit einem Glöckchen angekündigt. Bei uns übernimmt diese Rolle ein schreiendes Kind. Eines, das die Spannung einfach nicht mehr aushalten kann und dessen Wut jetzt das Signal gibt. Die erschrockenen Erwachsenen rennen in ihre Positionen. Meine Mutter und mein Vater an die Tür, ich ans Klavier; die zweite Generation Eltern, meine Schwägerin, mein Bruder, meine Schwester und ihr Mann, versuchen, ihre aufgeregten Kleinen unfallfrei vor das Weihnachtszimmer zu leiten.

Aber der Mann ist ein Neuer und kennt sich nicht aus in Familientraditionen. Er positioniert sich tölpelhaft vor meine Mutter. Ihr bleibt nichts, als ihm mit sattem Sopran «Ihr Kinderlein kommet» ins Ohr zu singen, vier Strophen lang. Ich verspiele mich zweimal. Mein Vater hustet gerührt.

«Mann, das ist ja irre traditionell bei euch!», staunt der Mann, der der neue Freund meine Schwester ist, als wir ins Weihnachtszimmer schreiten. Und dann küsst er Britta. Meine Eltern schauen ihn entsetzt an. Offenes Küssen gehört in meiner Familie zu den Tabus. Wenn wir als Kinder knutschende Pärchen beobachteten, pflegte meine Mutter zu sagen: «Die müssen sich ja wahnsinnig langweilen. Die haben sich anscheinend überhaupt nichts zu sagen.»

Eigentlich gibt es nach dem Singen folgende Punkte in unserem Programm: Mein ältester Neffe buchstabiert sich durch die Weihnachtsgeschichte, dann öffnen die Erwachsenen den Sekt, und die Kinder reißen sich durch die Geschenke wie ein Rudel ausgehungerter Hyänen. Nur ist da in diesem Jahr der neue Mann. Eh wir etwas tun können, erhebt er sein Glas und hält eine kleine Rede. Auf Britta. Wie sehr sie sein Leben verschönere, dass er die beste Frau der Welt gewonnen habe, dass er sich so über alle Maßen über seine neue Familie freue. Wir stehen versteinert. Wird der gleich niederknien und ihr einen Antrag machen? Nein. Wir sollen auf sie beide trinken.

Nach dem Sekt verschwindet Britta in der Küche, und ich folge ihr. «Ist er nicht toll?», flüstert sie mir zu. Sie meint es ernst. «Na ja», sage ich. Sie schaut mich an und sieht so glücklich aus, ich kann es ihr nicht verderben. «Ja, doch», sage ich, «insgesamt toll.»

Im Weihnachtszimmer wird die Materialschlacht fortgesetzt. Die Kinder kreischen und freuen sich. Sie küssen Eltern, Tanten, Onkel und Großeltern. Die Euphorie steckt an. Alle sind beseelt, die Erwachsenen müssen allerdings mit Sekt nachhelfen.

Mein Vater, der am Anfang etwas zurückhaltend war, hat zu alter Form zurückgefunden. «Was haben Sie studiert?», fragt er den neuen Freund meiner Schwester.



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